Der herzfehler und wie er sich einen platz schafft in unserer familie...

wie alles begann...

„Hol Luft – und nun tauch‘ ein.“ Meine Hebamme hielt mich zum Pressen an. Ich solle so doll pressen, wie es in meiner Macht steht. Nach 4 Presswehen war er da – ein Junge. Ich wusste tief im Inneren, dass ich einen Jungen gebären würde, und war trotzdem überwältigt, dass diese Tatsache eintraf. Trotz dessen, dass mein Mann und ich uns schworen, geschlechterneutral zu erziehen und dem Geschlecht keine größere Beachtung beizumessen, schossen meinem Mann Tränen in die Augen, als er entdeckte, dass er einen Sohn geschenkt bekommen hatte. Der erste Sohn in dieser Generation. Er konnte sich bildlich ausmalen, wie stolz sein Vater war. Zukunftsvisionen und Träumereien, wie er mit ihm lachend über das Fußballfeld rennen würde, traten ein und gaben ihm ein Gefühl von Vollkommenheit. 

Vor 3 Jahren, als meine Tochter auf die Welt kam, überkamen mich Gefühle der Fremdartigkeit. Ein Hauch von Schock, ein Hauch von Überwältigung, dass dieses kleine Wesen noch zuvor in meinem Bauch seine Tänze vollführt hatte. Sie erschien mir vertraut und zeitgleich so fremd, dass ich sie anstarrte und ständig murmelte, es sei ein Mädchen. Die Hebamme musste mir zweimal sagen, dass ich mein Kind hochnehmen dürfte, sie bekam allmählich Angst, dass mein Baby verkühlen könnte, solange ich es ohne Hautkontakt anstarrte.  

Bei meinem Sohn war es anders. Er kam auf die Welt, ich nahm ihn direkt und ohne Umschweife in die Arme. „Hallo, mein kleiner! Schatz, das ist Lejan!“ Für den Namen haben wir uns vorher entschieden, jedoch wussten wir nicht, dass wir einen Jungen gebären würden. Mich suchten die typischen Mamagefühle sofort heim – instinktiv wusste ich, dass ich ihn schon kenne. Als hätten wir aus früheren Leben Verbindungen mit ins Jetzige genommen. Als hätten wir uns genau für diesen Tag verabredet. Und kurz nach der Geburt, voller Endorphine und Oxytocin war mein Ego weggespült. Mein Unterbewusstsein hatte die Kontrolle übernommen und ließ mir Gefühle über Gefühle von tiefer Vertrautheit, Verbundenheit und blinder Liebe zukommen – als wäre Lejan schon immer an meiner Seite gewesen, nicht erst seit knapp 10 Monaten. „Jetzt bist du endlich da“, sagte ich mehrmals in den Raum hinein, säuselte ihm liebliche Dinge ins Ohr, während er zusammengekauert auf meiner Brust lag und versuchte, zu stillen.  

36 Stunden. Wenn 36 eine Engelszahl gewesen wäre, wäre ich mir rückblickend nicht sicher, ob sie mir Glück gebracht hätte. 36 Stunden schenkte ich dir all meine Liebe, die ich in mir trug. Wir kuschelten, stillten, wir schliefen nebeneinander die erste Nacht auf der Wöchnerinnenstation. Sein Weinen war eher ein Fiepen und der Blick, den er als Neugeborenes aufsetze, glich einem grimmigen Boxer.  Dein Papa besuchte dich gemeinsam mit meiner Tochter. Es war ein magisches Erlebnis, als sie Lejan sah. Als wäre das Wort Geschwister die Übersetzung von Wegbegleiter. Es umschrieb genau das, was wir als Eltern beobachteten: eine behutsame große Schwester, die sich ihren Bruder ganz genau anschaute. Sie zeigte auf seine Öhrchen und Augen und war fasziniert, wie echt und lebendig er aussah. Als sie sich verabschiedeten und den Heimweg antraten, verbrachten Lejan und ich den Rest des Abends kuschelnd im Bett. Abends um Mitternacht wurde er abgeholt, damit er zum nächtlichen Wiegen ins Schwesternzimmer gebracht werden konnte. Die Nachtschwester kam die Tür rein und berichtete mir, dass mein Sohn dortbliebe, da seine Sättigung nicht passte. Sie wollten ihn beobachten.  

Ich weiß nicht, was passiert war. Geträumt hatte ich, dass die Schwester mir sagte, es stünde sehr schlecht um meinen Sohn. Als ich morgens um halb 4 wach wurde, schweißgebadet aufrecht im Bett saß und das Bettchen meines Sohnes suchte, wusste ich, dass es wahr war: irgendwas stimmte nicht. Ich ließ die Schwester kommen und fragte sie, was sie mir genau erzählt habe, denn ich konnte mich nicht mehr genau erinnern. Sie antwortete, dass Lejan im Schwesternzimmer läge. „Es geht ihm gut, Frau Schulz. Die Sättigung ist nur besorgniserregend und deswegen behalten wir ihm im Auge. Sie können gerne zu ihm.“ Ich hievte mich aus dem Bett und schritt langsam, doch bestimmt Richtung Schwesternzimmer. Geschunden von der Geburt und angetrieben vom Adrenalin kam ich dort an und sah meinem Sohn im Wärmekasten. Was genau ist in 36 Stunden passiert? Ich hatte das Gefühl, den Wendepunkt verpasst zu haben. Der Wendepunkt, der nichts Gutes zu verheißen hatte. Ich saß über vier Stunden neben diesem Kasten. Beobachtete meinen Sohn beim Schlafen, schaute auf die Werte, die ein kleines Display neben seinem Köpfchen ausspuckte. Diese schwankten von 79 bis 89. Keine 99, keine 98 – Werte, die Neugeborene nach ca. 36 Lebensstunden erreichen sollten. Und mein Sohn eben nicht. Was hatte das zu bedeuten? Ich stellte mir zigmal die Frage, ob ich irgendwas falsch gemacht hätte. Ob ich etwas übersehen hätte. Aber nein – darauf hatte ich keine konkrete Antwort. Denn es war nicht unsere Schuld – das Leben hatte andere Pläne… 


Am Vormittag kam die Ärztin zu mir und berichtete mir, dass ein RTW von der nächstgelegenen Kinderklinik gerufen wurde, denn Lejan musste verlegt werden. Seine Werte wurden nicht besser, außerdem ist sein Entzündungswert gestiegen. Das deutete auf eine Neugeborenen Sepsis hin. Man sagte mir, dass mein Fruchtwasser grünlich verfärbt war, und dass das die Ursache sein könnte. Ich wusste bis dato nicht, dass es Komplikationen – wenn auch nicht nennenswerte große – bei der Geburt gab. Die Kinderärztin von der Kinderklinik, die ihn mitnehmen wollte, erklärte mir ganz ausführlich, dass Lejan eine Antibiose Therapie bekäme und die Werte sich in 2 bis 3 tagen stabilisieren sollten. Und dass er nach ca. 7 Tagen entlassen werden kann. Ich fühlte mich von meinem Sohn entrissen, heulte Rotz und Wasser, weil es sich für mich mehr als unnatürlich anfühlte, dass er ohne mich in ein Bettchen geschnallt wurde, um anschließend kilometerweit weg untergebracht zu werden. Mein innerer Widerstand ließ mich kaum Atmen und bereitete mir rasende Kopfschmerzen. Ich fühlte mich verloren in diesem medizinischen Dilemma und hatte Angst, dort nie wieder herauszufinden. Mein Mann sagte mir, wir sollen uns auf das Wesentliche konzentrieren: ihm wird geholfen und wenn ich es geschafft habe, selbst als Patientin verlegt zu werden, könnte ich ihn wiedersehen.  

8 elendig lange Stunden vergingen, als ich endlich, heulend und ausgelaugt, das Bettchen von Lejan auf der Neugeborenen Intensivstation erreichte. Die Schwester empfing mich mit einer sanftmütigen Stimme und erklärte mir alles. Ich selbst hatte ein Bett auf einer anderen Station erhalten, es war mir gar unerträglich, daran zu denken, in absehbarer Zeit den Raum zu verlassen, um mich woanders niederzulassen. Es pendelte sich eine Art von medizinischen Alltag ein, ich verbrachte den gesamten Tag neben meinen Sohn am Bett, versuchte ihn zu stillen, kuschelte ihn, und aß meine Mahlzeiten auf dem Zimmer, doch dafür ließ ich mir nie mehr Zeit als wenige Minuten.  

Ich erinnere mich noch ganz genau, als am zweiten Tag des Aufenthalts der Musiktherapeut die Tür reinkam und an seinem Harfen ähnlichem Instrument zupfte, damit wohlig vibrierende Klänge den Raum erfüllten. Er erklärte mir, dass Säuglinge auf die Frequenzen sehr stark reagieren, man würde dies am Puls und an der Herzfrequenz sehen. Wir unterhielten uns über Dankbarkeit. Ich sagte, dass ich dankbar sei, dass mein Sohn kein Frühchen ist. Sondern nur kleine Startschwierigkeiten hätte. Ich war erfüllt von der Musik, von der Anwesenheit meines Sohnes, dass ich für einen Moment daran glaubte, dass wir bald wieder zu Hause sein würden. Als wäre es ein kleines Leuchten gewesen, was sich tief in mir breit gemacht hätte. Am Nachmittag desselben Tages merkte ich, wie weiterhin schlapp mein Sohn war. Seine Symptome verschwanden nicht gänzlich, was mich verunsicherte. Ich fragte mehrmals die Schwester, ob denn alles in Ordnung sei. Sie konnte mir keine Antwort geben, meinte jedoch, dass sie es weitergeben würde.  

An diesem Abend verließ ich meinen Sohn mit gemischten Gefühlen. Zum einen durfte ich ihn nicht mehr anlegen, was mich abermals aus der Bahn warf. Zum anderen durfte ich nicht zu ihm, weil sein Zugang für die Antibiose nicht mehr funktionsfähig war. Das hieß, dass die Nachtschwester mich auf das Zimmer schickte. Ich versuchte mich mit dem Gedanken zu trösten, dass ich nach dem Aufwachen wieder direkt zu ihm könnte, und zwang mich, einzuschlafen.  

Morgens um 4 wurde ich geweckt, weil mein Sohn gestillt werden wollte. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, selbst wenn ich noch so müde war. Ich schlüpfte in meine kuscheligen Hausschlappen und begab mich direkt zum Aufzug. Auf der Station angekommen, wurde ich von einer Ärztin abgehalten: „Hallo Frau Schulz, ich bin die Dr. Berner. Würden Sie für einen Moment mit ins Sprechzimmer kommen? Wir würden mit Ihnen gerne etwas besprechen.“ – „Aber ich sollte ihn doch stillen.“ Der Lejan sei gut versorgt, meinte sie, und betonte, dass wir im Sprechzimmer weitersprechen können. Das Zimmer war klein und in weiß gehalten, wie so gut alles in der Klinik. Doch dieses Mal hatte es etwas Beengendes – ich wollte mich instinktiv strecken und meine Arme freischütteln, um diese Last abzuwerfen, doch die Realität, dass zwei Ärztinnen mit mir in diesem Raum waren, hielt mich davon ab. „Frau Schulz, ich bin die Dr. Wörner. Dr. Berner und ich wollten mit Ihnen über die Befunde vom Lejan sprechen.“ Meine Ohren waren so klar, dass ich mein eigenes Blut rauschen hörte. Meine Augen nahmen jedes Detail ihres Gesichtes wahr, ihre langen braunen Haare hatte sie in einem Dutt hochgesteckt, ihre bernsteinfarbenen Augen betonte sie mit einem goldenen und braunen Lidstrich, während der Mundschutz den Rest des Gesichtes bedeckte; selbst wenn mein Herz in diesem Moment drohte, aus dem Brustkorb zu springen. Und eine innere Ahnung flüsterte nuschelnd: „bitte nicht das Herz…“ – Doch als Dr. Wörner ansetzte, hatte sich der Abgrund bereits aufgetan: „Wir haben ein Ultraschall vorgenommen und festgestellt, dass er was am Herzen hat.“ 

Wenn jemand in meinem Leben verstorben ist, war es meist so, dass ein Stück meiner Realität verschwand. Wie ein Raum in einem Haus, der leergeräumt wurde, und nur noch gähnende Leere vorzufinden war. Ich hatte Mühe, diesen Raum zu betreten, stellte aber mit dem einhergehenden Trauerprozess fest, dass ich den Raum nutzen durfte. Nach und nach stellte ich Möbel rein, hängte Bilder auf, gelegentlich änderte ich die Wandfarbe. Irgendwann kam meist der Zeitpunkt, wo ich feststellte, dass der Raum immer noch dieselbe Energie der Person trug und diese immer auf mich achtete, doch war es so, dass der Raum ein Teil meines Lebens wurde. Wie ein nachträgliches Erbe der Person, die von mir ging. Das gab mir ein Gefühl von Frieden – selbst wenn dieser Frieden erst Monate oder gar Jahre später eintraf.  

Die Diagnose riss mir nicht nur den Raum ein, den Lejan in meinem Lebenshaus beziehen sollte, sondern donnerte wie eine Bombe durch alle Etagen und explodierte im Keller – es blieben, wenn sehr labil, ausschließlich die Grundmauern stehen. Ich saß mittendrin, in den Trümmern meines Seins, meines Lebens, und hatte keine Ahnung, wie ich das alles wieder aufbauen sollte. Die Lebensräume meines Mannes und meiner Tochter waren so beschädigt, dass auch sie fehlende Wände und zerrissene Böden aufwiesen. Wie genau konnte das, in nur einer einzigen Sekunde, passieren? 

„Frau Schulz, was hat der Frauenarzt Ihnen gesagt?“ – Tränenüberströmt und mit erstickter Stimme versuchte ich, die Ärztinnen zu fragen, ob ich dran schuld bin, weil ich die Besorgnis meines Frauenarztes nicht ernst nahm. Ich malte mit der Hand auf dem Tisch, um ein Bild, was ich zu erklären versuchte, besser verstand; „Er meinte, dass die blaue Arterie nicht zu sehen sei, dass es aber auch nicht Teil der Diagnostik ist, diese richtig über das Screening abzubilden. Er hätte mich zur Feindiagnostik geschickt, wenn ich gewollt hätte, aber er wollte mir den Stress nur zumuten, wenn ich es gewünscht hätte. Er sagte mir, selbst wenn man etwas diagnostizieren würde, würde es die Schwangerschaft nicht beeinträchtigen.“ – „Das ist vollkommen richtig, Frau Schulz. Machen Sie sich keine Vorwürfe, sie haben alles richtig gemacht. Wir bräuchten nur Ihr Einverständnis für ein bestimmtes Medikament. Sehen Sie: Ihr Gynäkologe hatte nicht ganz Unrecht, beim Lejan fehlt anscheinend was an der Lungenarterie. Aber wir sahen, dass das Verbindungsstück, was die Embryonen im Bauch ausgebildet haben und sich erst nach der Geburt verschließt, noch offen ist. Diesen müssen wir offenhalten, deswegen wäre es wichtig, dass Sie uns Ihr Einverständnis für ein Relaxan geben würden.“ Ich nickte eifrig und meine Tränen rollten mittlerweile den Hals hinunter: „Ja, bitte, können Sie.“  

Mittlerweile fühlte ich mich wie fremdgesteuert. Ich ging zum Bett meines Sohnes zurück, weil ich ihn schreien hörte. Er regte sich zu sehr auf, weswegen ihm die Ärzte ein Beruhigungsmittel verabreichten. Ich wurde von ihm weggeführt. Er solle jetzt schlafen, hieß es. Es wäre alles soweit in Ordnung, sagte jemand anderes. Aber ich wollte ihn doch stillen, versuchte ich kläglich meine Rolle als Mutter zu vertreten. Doch so sehr ich versuchte, die Selbstbestimmtheit zurückzuerlangen, so sehr verschwand die innere Kontrolle über meine Stimme, mein Leben; und ehe ich mich versah, hallten die Worte in meinem Kopf wider, so als wäre ich eine der Pflegerinnen, die mich versuchten, zu stützen und mich aus dem Raum geleiteten.  

Sie brachten mich zum Elternzimmer und versicherten mir immer wieder, das alles in Ordnung sei und mein Sohn jetzt schliefe. Ich solle abpumpen, meinten sie noch, denn eine Brustentzündung durch Milchstau, wollte man jetzt nicht riskieren – das sagten sie nicht, aber es war vorausgesetzt, dass ich zu funktionieren habe. Zumindest sagte mir das auch mein Körper und ließ mich automatisiert die Milchpumpe vorbereiten, damit ich die Trichter aufsetzen konnte und dem gewohnten Pumpgeräusch lauschen durfte. Währenddessen rief ich meine Mutter an. Kurz dachte ich an meinen Mann, der friedlich zu Hause schlafen müsste, doch dann erinnerte ich mich wage an den Anruf, als ich mit einer Schwester, die mich ins Elternzimmer brachte, getätigt hatte. „Lejan hat was am Herzen“, schluchzte ich in den Hörer. Er war mit einem Mal hellwach. Ich hörte ein Windhauch, was sicher daher kam, weil er sich ruckartig aufsetzte. „Du musst kommen“, sagte ich noch, bevor meine Stimme versagte und Tränen drohten, sie zu ersticken. „Ich mache mich sofort auf den Weg“, sagte er, leicht gehetzt. Bestimmt klopfte ihm sein Herz bis hoch in den Hals, wie mein Blut in den Ohren rauschte – genauso schmerzhaft. Ich besann mich, dachte instinktiv an die lange Autofahrt: „Schatz, bitte beruhige dich, du musst langsam fahren. Sei vorsichtig!“ Er atmete zitternd ein, ich spürte, wie er sich zur Ruhe zwang. Er versicherte mir, das er auf sich aufpassen würde.  

Meine Mutter ging schlaftrunken ans Handy und alles was ich rausbrachte, war, das Lejan einen Herzfehler hat. „Ach du Scheiße“, war wohl die erste Reaktion in diesem, und in mehreren Millionen anderen Momenten, die wir auf Anhieb bekamen. Als hätten sich Freunde und Bekannte abgesprochen, welche Reaktion denn am geeignetsten wäre und einstimmig alle für diese drei kleine Wörtchen entschieden hätten.